Ministerpräsident Mario Draghi ließ Ende März mitteilen, dass zahlreiche Corona-Beschränkungen bis Ende April verlängert werden. Die Schulen für jüngere Kinder sollen nach Ostern aber grundsätzlich wieder öffnen. Außerdem sieht ein Dekret eine Impfpflicht für viele Beschäftigte im Gesundheitswesen vor. Damit reagiert Rom auf die weitverbreitete Impfskepsis bei Teilen des medizinischen Personals. Die Verlängerung der Corona-Einschränkungen war in Draghis kunstvoll gebildetem Mehrparteienbündnis durchaus umstritten. Den Befürwortern eines harten Lockdowns standen die Anhänger von Öffnungen gegenüber, zu denen die mitregierende rechte Lega von Matteo Salvini gehört.
Die in ihn gesetzten Erwartungen als Krisenmanager hat Draghi nach Auffassung vieler Italiener bislang erfüllt. Ungelöst bleibt aber das Problem der illegalen Migration über das Mittelmeer. Seit dem Amtsende von Salvini als Innenminister ist die Zahl afrikanischer Bootsflüchtlinge, die mithilfe von „Seenotrettern“ nach Italien kommen, sprunghaft angestiegen. Hier scheint der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) die Sache laufen zu lassen, um die ihn stützenden Sozialdemokraten nicht zu verprellen. Der gebürtige Römer will seine Parteienallianz unbedingt zusammenhalten, um mit einem größtmöglichen gesellschaftlichen Konsens grundlegende Reformen anzustoßen. „Einigkeit aus Liebe zu Italien“ kann als sein Leitmotiv gelten. In seiner Antrittsrede im Februar 2021 appellierte Draghi an die Abgeordneten im römischen Senat, auf parteipolitische Rivalitäten zu verzichten und seine Regierung der Einheit zu unterstützen. „Heute ist Einheit keine Option, sondern eine Pflicht“, mahnte der ehrgeizige Neu-Politiker und zeigte sich in seiner gut 50-minütigen Rede überzeugt, dass eine neue politische Einheit von „der Liebe zu Italien“ getragen werde. Die Bürger würden stark unter der Pandemie leiden und müssten sich deshalb umso mehr auf die Institutionen verlassen können.
Bis zu den nächsten regulären Parlamentswahlen im Jahr 2023 will der frühere Währungshüter mit seinem Kabinett aus Berufspolitikern und parteilosen Experten Strukturreformen in der Wirtschaft, der Verwaltung und im Steuersystem durchsetzen. Priorität hat nach seinen Worten erst einmal das Aufstellen eines verlässlichen Aktionsplans, um Italien die fast 209 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu sichern. Die Unterstützung diverser Parteien und Einzelabgeordneter für Draghi erklärt der Kolumnist Ezio Mauro so: „Keiner der politischen Akteure kann es sich jetzt leisten, die Verantwortung dafür übernehmen, das einzige Projekt zur Rettung des Landes zu zerstören.“ Für die französische Tageszeitung „Le Monde“ hat der langjährige EZB-Chef nicht nur fachliche, sondern auch politische Qualitäten und sei deshalb weit mehr als eine technokratische Verlegenheitslösung. „Die technischen Fähigkeiten des ehemaligen EZB-Präsidenten sind unbestreitbar und können in einer Zeit nützlich sein, in der die 209 Milliarden Euro des europäischen Konjunkturprogramms eine historische Chance bietet, einige der Schwächen des Landes zu korrigieren“, analysiert das linksliberale Blatt. „Aber sie allein erklären nicht, warum Präsident Mattarella beschlossen hat, Mario Draghi zu diesem entscheidenden Zeitpunkt aus dem Ruhestand zu holen.“ Viel kritischer bewertet die Regierungsübernahme Draghis der Soziologe Marco Revelli. „Der Politik wurde ein Todesstoß versetzt. Nicht einer Regierung oder einer Koalition, der bereits der Atem ausgegangen war, sondern der Politik tout court“, hat Revelli im italienischen Linksblatt „Il Manifesto“ geschrieben. „Bescheinigt wurde das Scheitern all ihrer Protagonisten, der Mehrheit und der Opposition, die nicht in der Lage waren, aus dem Labyrinth herauszukommen. Ein Labyrinth, in das sie ein skrupelloser politischer Pirat wie Matteo Renzi getrieben hatte, der de facto ihre kommissarische Verwaltung ankündigte und zwar durch einen ‚Mann der Bank‘, der Mario Draghi im Grunde ist.“
Politisch neutralere Analysten trauen es dem Finanzfachmann jedenfalls zu, dass er im stagnierenden und von Selbstzweifeln geplagten Italien die seit Jahren fälligen Reformen anpackt. Der „Spiegel“ hält ihn deshalb schon jetzt für einen der ganz großen Akteure auf dem politischen Parkett der EU und notierte erst dieser Tage: „Das neue Machtzentrum bilden Mario Draghi und Emmanuel Macron. Wie ein gut eingespieltes Sturmduo spielen sich die beiden die Bälle zu.“ Das Führungsduo „Dracon“ lasse den deutschen Einfluss in Europa sinken. Das Hamburger Nachrichtenmagazin scheint das mit Genugtuung aufzunehmen.
Der Vertrauensvorschuss der Italiener für den Ministerpräsidenten ist groß, aber dieser muss jetzt auch politisch liefern. Eine ganz aktuelle Agorà -Umfrage sieht das Vertrauen in den 73-Jährigen leicht sinken. Er kommt auf einen Zustimmungswert von 54 Prozent, eine Woche zuvor waren es noch 56 Prozent. Stabil auf dem zweiten Platz liegen Ex-Premierminister Giuseppe Conte und die rechte Politikerin Giorgia Meloni, die mit ihren „Brüdern Italiens“ (Fratelli d’Italia) in Opposition zu Draghi steht. Beide kommen auf 41 Prozent.